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Der Weg zu ihr

Er stellt sein Fahrrad, an dessen Lenker ein kleiner Fisch aus Plastik baumelt, am Fuß der Treppe ab, steigt die Stufen zum Deich empor und wandert jeden Abend in die gleiche Richtung. Er ist ein wohl beleibter älterer Herr, der mich an einen Schauspieler erinnert, dessen Name mir nicht einfällt. Elegant sieht er aus, trotz seiner Leibesfülle oder gerade deswegen. Er trägt einen Trenchcoat und um seinen Hals hat er locker einen Schal geschlungen. Seine langen,  fast weißen Haare wehen im Wind.
Nach einer Weile kommt er zurück. Mit festen Schritten schreitet er den Deich entlang. Er bleibt oben noch kurz stehen und schaut auf das Meer. Dann steigt er wieder auf sein Rad und fährt davon.
Ich frage mich, wie jeden Abend, was er macht. Ob es nur ein Abendspaziergang ist? Danach sieht es gar nicht aus. Zielstrebig, so als habe er etwas Wichtiges zu erledigen, wandert er Tag für Tag die gleiche Strecke, immer zur gleichen Zeit.
Es geht mich nichts an, trotzdem beschließe ich an einem Abend, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Kurz vor seiner Zeit gehe ich zum Deich und als ich ihn von Weitem kommen sehe, steige ich hoch und wandere langsam in die Richtung, die er auch nehmen wird. Als er mich überholt grüßt er mich mit einem freundlichen „Guten Abend“. Frech beschleunige ich ebenfalls meine Schritte und bleibe hinter ihm. Ich will wissen wohin er geht und was er macht. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Es grummelt in meinem Bauch, also laufe ich etwas langsamer, jedoch ohne ihn aus den Augen zu verlieren.
Nach ein paar Minuten verlässt er den Deich und geht zum Strand hinunter. Er sieht sich nicht um, sondern wendet sich dem Meer zu, breitet seine Arme aus und fängt an zu singen. Nur leise Töne dringen an mein Ohr, die Melodie kann ich nicht erkennen. An seiner Körperhaltung sehe ich aber, dass er inbrünstig singen muss.
Ich schäme mich ein bisschen, bin aber doch verzaubert von dem, was ich sehe, so dass ich mich nicht lösen kann.
Nach einer Weile lässt er die Arme sinken, tritt etwas näher ans Wasser und greift in seine Manteltasche. Mit einer ausladenden Bewegung wirft er Blüten aufs Meer, die auf dem Wasser schaukeln. Dann verharrt er still einige Minuten, wendet sich dem Deich zu und tritt den Rückweg an.
Am nächsten Abend gehe ich früher zum Deich und setze mich auf eine Bank. Ich sehe ihn kommen, kurz bevor er mich erreicht winkt er kurz und läuft dann zum Wasser hinunter.
An diesem Tag habe ich mehr Glück, der Wind kommt vom Meer her und trägt die Melodie zu mir. Gebannt lausche ich. Es ist ein Lied, das meine Mutter mir schon vorgesungen hat.
Traurig klingt es, aber doch schön und feierlich. „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen, und wo du bleibst, da bleibe auch ich.“ (Ruth 1 – 16-17)
Auf einmal weiß ich, was dort unten passiert. Er trauert um seine Liebe, die ihm vorausgegangen sein muss.
Wieder wirft er Blütenblätter aufs Meer, verharrt eine Weile und bevor er sich umdreht, stehe ich still auf und gehe weiter. Ich möchte ihn in seinen Gedanken nicht stören.
Ich gehe nicht mehr zum Deich, aber jeden Abend schaue ich aus dem Fenster und warte auf ihn.
Das geht ein paar Wochen so, dann warte ich vergeblich. Er kommt nicht mehr. ‚Vielleicht ist er krank“, denke ich und mache mir Sorgen. Hätte ich ihn doch angesprochen, dann könnte ich ihn besuchen. Vielleicht braucht er meine Hilfe. Jeden Abend wandere ich zum Deich, ich nehme Blütenblätter der letzten Dahlien aus meinem Garten mit und streue sie aufs Wasser. Lange schaue ich ihnen nach, beobachte, wie die Wellen sie auf’s Meer hinaustragen.
Singen kann ich nicht, aber die Worte aus der Bibel haben sich fest eingeprägt und wenn ich sie sage, dann höre ich die Melodie, die der alte Mann gesungen hat.

Wo du hingehst, da will auch ich, auch ich hingehen, und wo du bleibst, da bleibe auch ich …

© Regina Meier zu Verl

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