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Irene fliegt

Wenn man in früheren Zeiten die Welt von oben betrachten wollte, musste man in einen Flieger steigen, eine Ballonfahrt machen oder einen hohen Berg erklimmen. Heute war das viel einfacher, man schaute ins Internet und konnte die Erde aus verschiedenen Perspektiven betrachten, ganz ohne seine Flugangst zu überwinden oder den Geldbeutel zu belasten. Aber so ganz das Gleiche war das wohl auch nicht.

Irene war nie geflogen. Das hatte sich einfach nicht ergeben, obwohl sie immer eine große Sehnsucht hatte, wenigstens einmal in ihrem Leben die Heimat von oben zu betrachten, am liebsten im Herbst, ihrer Lieblingsjahreszeit. Sie wusste nicht einmal, ob sie Flugangst haben würde. Aber es war müßig, darüber nachzudenken. Jetzt war es ohnehin zu spät. Das dachte Irene jedenfalls und sie fand sich damit ab. Es war ja auch schön, einfach zu träumen, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, dass man mit weiten Schwingen übers Land flog. Ruhig, wie ein Adler, beinahe lautlos, ohne störendes Motorengebrumm.

Manchmal, wenn Irene ihren Mittagsschlaf in dem großen alten Ohrensessel ihres Vaters verbrachte, gelang es ihr abzuheben. Zunächst ging es steil in die Höhe. Sie betrachtete das kleine Haus, in dem sie mit ihrer Tochter und deren Familie lebte. Da war das Schaukelgerüst im Garten, das ihr Mann für die Enkelkinder gebaut hatte. Irene lächelte bei dem Gedanken daran, wie oft sie die kleine Merle angeschubst hatte, immer und immer wieder, bis diese vor Vergnügen juchzte und rief: „Höher, Oma, höher!“ Auch Irene wollte nun höher hinaus. Langsam stieg sie weiter auf und flog auf den Wald zu, in dem sie einen großen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte. Sie erinnerte sich an die Brombeerhecken und beinahe war es ihr, als schmecke sie die Süße der Beeren, die sie in ihrer Blechmilchkanne gesammelt hatte und aus denen die Mutter dann köstliche Marmelade gekocht hatte. Oder Brombeersaft, mmh, wie lecker der gewesen war.

Hinter dem Wald lag der kleine See. Irene ließ sich ein wenig fallen, um alles besser betrachten zu können. Zwei Enten zogen Kreise ins Wasser und Blesshühner kicherten im Gehölz rund um den See. Hier und da stiegen Luftblasen auf von den Fischen, die munter im klaren Wasser umherschwammen.
„Achtung!“, rief Irene, als ein Fischreiher ruhig, mit gesenktem Kopf durch da seichte Wasser am Rand des Sees stakste. Doch es war zu spät, gezielt hatte der Reiher einen kleinen Fisch mit seinem Schnabel gefangen. Er zappelte, aber es gab keine Chance für ihn. „So ist das Leben!“, dachte Irene traurig und stieg wieder auf. Sie ließ den See hinter sich und sah die alte Volksschule, die sie als Kind besucht hatte. Langsam zog sie ihre Kreise über das Gebiet, erkannte den Eingang, den Schulhof und da, stand da nicht ihre alte Lehrerin im Schulgarten? Irene wischten den Gedanken fort. Das konnte nicht sein. Sie selbst war fast achtzig, die Lehrerin müsste weit über hundert Jahre alt sein. Sie war eine derjenigen gewesen, die Irenes Leben sehr geprägt hatte. Von ihr hatte sie wohl die Liebe zum Theater übernommen. Nicht nur um zuzuschauen, sondern um zu spielen. Viele Jahre hatte sie in einer Laienspielgruppe mitgemacht, war immer wieder in andere Rollen geschlüpft und es hatte so viel Spaß gemacht.
Irene drehte eine weitere Runde über das Schulgebäude. Vielleicht könnte sie mal wieder hingehen, dachte sie sich. Aber zuerst wollte sie weiterschauen. Höher ging es hinaus, immer höher. Irene steuerte ihre Geburtsstadt an, schon von weitem sah sie die alte Burg, die sie so oft mit den Eltern besucht hatte, als sie schon längst aufs Land gezogen waren. Stolz erhoben sich auch die beiden Kirchtürme über die Stadt. Irene glaubte den Glockenklang zu hören. Dunkel war es geworden. War sie denn schon so lang unterwegs? Irene begann zu frieren, sie zitterte und wusste nicht, wo sie nun hinfliegen sollte. Sie würde nicht mehr nach Hause finden in der Dunkelheit.
„Mama!“, rief sie, weil sie sich plötzlich verlassen fühlte wie ein Kind. „Mama!“ Sie spürte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
„Oma, du träumst!“ Sie erkannte die Stimme ihrer Urenkelin. Erleichtert nahm sie wahr, dass sie in ihrem Sessel am Fenster saß.
„Ich habe eine Reise gemacht, es war sehr schön, aber dann wurde es dunkel!“, erklärte sie Lina.
„Ich weiß Oma. Warst du wieder am See?“, fragte sie.
„Ja, da war ich, und an meiner alten Schule und an der Burg, wie immer!“ Irene lächelte, als Lina ihr eine Tasse reichte.
„Brombeertee?“, fragte sie und Lina lachte.

„Was sonst!“

© Regina Meier zu Verl 2016

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